Beim Rangieren kollidierte eine Azuma-Einheit (800109) in Leeds Neville Hill TMD mit einem HST (power car 43300 "100 yrs of Craigentinny"), es kam dabei zu einer Entgleisung. Verletzt wurde niemand.
Zweikraftzüge sind problematisch. Auf der einen Seite sind APOC-Balisen an den Enden der Fahrleitung verlegt, welche bei Überfahrt automatisch den Stromabnehmer senken und die Dieselmotoren starten, auf der anderen Seite ist es nicht erwünscht, die Dieselmotoren ohne Vorwärmen zu starten, d.h. spontanes Wechseln der Traktion ist nicht empfehlenswert.
Der Bahnhof Leeds ist elektrifiziert, und die Oberleitung führt noch weiter bis ins Depot Neville Hill. Ab der Abzweigung zum Depot geht es ohne Fahrleitung weiter nach York und Hull. Kurz vor dem Abzweig liegt so eine APOC-Balise.
Der Unfall geschah an einem Mittwochabend, und der LNER Class 800 kam aus Peterborough als 1D29, Ankunft 21:16 Uhr, und fuhr weiter nach Neville Hill Depot als Leerfahrt 5D29.
Zwei Tage vorher, am Montag, hatte der gleiche Lokführer bereits den gleichen Zug 1D29 aus London. Nach Ankunft in Leeds wechselte er im Bordcomputer (TMS = Train Management System) nicht die Zugnummer von 1D29 auf 5D29, was bei den Altbauzügen (HST, Class 91) öfter gemacht wurde, aber offiziell nicht geduldet wurde. Der Zug erscheint dann im Stellwerk unter der falschen Zugnummer. Das APOC-Bordsystem hat bei Überfahrt über die Balise den Stromabnehmer automatisch gesenkt und die Dieselmotoren gestartet, weil für Zug 1D29 (anstelle des korrekten Headcodes 5D29) keine Fahrtinformation im System hinterlegt war, denn die Zugfahrt endete ja offiziell in Leeds. Der Lokführer machte sich deswegen Sorgen, weil die Dieselmotoren ohne Vorwärmen gestartet wurden.
Am Dienstag, einen Tag vor dem Unfall, rief der Lokführer seinen Gruppenleiter an und erzählte ihm von dem Vorfall. Es wurde beschlossen, ab sofort immer im Bordcomputer (TMS) die Zugnummer in Leeds zu wechseln. Der Lokführer fuhr dann den ganzen Tag HSTs für LNER.
Am Mittwoch sah der Dienstplan eine Fahrt mit einer Class 91 von Leeds nach London vor und nach einer Pause die Rückfahrt mit dem verunfallten Class 800 von London nach Leeds. Nach Ende der Pause wurde der Lokführer und seine Crew benachrichtigt, dass die Vorleistung des besagten Class 800 ausfallen würde, weil der Zug eine Türstörung hätte. Den Tag über ist der Zug in Neville Hill untersucht worden und an der Tür ist nichts festgestellt worden, wobei aber das Diagnosesystem weiter Türstörungen meldete. Die Tür wurde für den Fahrgastverkehr verschlossen und verriegelt und es wurde beschlossen, dass der Zug so in den Einsatz gehen kann. Ein anderer Lokführer brachte den Zug nach Peterborough, etwa zwei Drittel der Strecke nach London, von wo aus die geplante Crew übernehmen sollte. Diese fuhr von London nach Peterborough mit einem anderen Zug.
Ab Peterborough übernahm der Lokführer den Zug wieder. Das TMS gab ständig Warnmeldungen wegen der angeblichen Türstörung aus. Leeds wurde trotzdem relativ pünktlich erreicht. In Leeds war auch der HST zugegen, eingetroffen aus Harrogate. Beide sollten ins Depot Neville Hill fahren. Der HST fuhr zuerst.
Es war dem Lokführer nicht möglich, im TMS die Zugnummer zu wechseln von 1D29 auf 5D29, auch nach mehreren Versuchen. Daraufhin wechselte der Lokführer seine Strategie und wollte das APOC-Bordsystem abschalten, so dass der Zug bei beibehaltener Zugnummer 1D29 bei Überfahrt über die APOC-Balise wenigstens nicht wieder den Stromabnehmer senkte und die Dieselmotoren startete. Dies gelang soweit auch, und nach Überfahrt über die Balise reagierte der Zug auch genau wie geplant nicht. Der Zug kam an einem Signal vor dem Eingangsgleis zum Depot zum Stehen.
Das Eingangsgleis kann permissiv befahren werden, d.h. anstelle eines Fahrtbegriffes (grünes oder gelbes Signal) wird der Signalbegriff Calling On (zwei weiße Lichter, nach rechts steigend, ähnlich wie ein Rangiersignal) gezeigt und der zweite Zug darf auf Sicht und mit Schrittgeschwindigkeit in das besetzte Zug einfahren. Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Class 800 Calling On signalisiert, weil der genannte HST noch auf dem Eingangsgleis vor dem Einfahrsignal in das Depot stand und auf Einfahrt wartete. Der Class 800 fuhr bis auf wenige Meter an den HST heran und kam zum Stehen. Da immer noch das APOC-Bordsystem abgeschaltet war, begann der Lokführer, über das TMS dieses wieder einzuschalten.
Der HST bekam Einfahrt in das Depot, kurz bevor der Class 800 zum Stehen gekommen ist. Er setzte sich langsam mit etwa 8 km/h in Bewegung. Der Lokführer des Class 800 bemerkte das und wollte dem HST hinterherfahren. Er betätigte den Beschleuningungshebel und wandte sich gleich wieder dem TMS zu. Insgesamt kam der Class 800 laut Bericht nur etwas mehr als 1 Sekunde zum Stehen. Da der Lokführer mit dem TMS beschäftigt war, achtete er nicht auf die Geschwindigkeit. Kurz nachdem er mit dem TMS fertig war, blickte er auf und erkannte den viel zu geringen Abstand der beiden Züge. Der Class 800 hatte wegen der Hebelstellung die ganze Zeit über beschleunigt, wenn auch gering. Trotz einer eingeleiteten Schnellbremsung kam es zur Kollision, der Class 800 fuhr mit 24 km/h dem etwa 8 km/h schnellen HST hinten drauf. Der HST-Lokführer bemerkte den Stoß und den Knall und leitete ebenfalls sofort eine Schnellbremsung ein. Die beiden Züge kamen etwa 10m entfernt voneinander zum Stehen.
Die einzelnen Wagen eines Class 800 sind untereinander mit hochfesten Verbindungsstangen verbunden. Diese haben zwar großes Seiten- und Höhenspiel, jedoch keinerlei Federung oder Dämpfung. Der Fall eines Stoßes am Kopfende des Zuges ist bei der Konstruktion schlicht nicht berücksichtigt worden. Daher kam es bei diesem Unfall dazu, dass der hintere Teil des Class 800 wegen seiner Trägheit den Zug am zweiten, dritten und vierten Wagen nach rechts aus dem Gleis drückte. Am zweiten Wagen entgleiste nur eine Achse, aber am dritten und vierten Wagen endete jeweils ein Drehgestell um einen ganzen Meter neben der Spur.
Im PDF-Unfallbericht ist auf Seite 18 eine Folge von Kamerabildern, welche aus dem Führerstand des Class 800 nach vorne aufgezeichnet wurden.
Die Untersuchung beschäftigt sich auch mit den Hintergründen dieses Unfalls. Zum einen führte das Permissive Fahren auf dem Eingangsgleis zu der Kollision und zum anderen die Ablenkung des Lokführers durch die Bedienung des TMS. Das Permissive Fahren wird in dem Bericht jedoch nicht infrage gestellt, es ist überall in UK gängig und jeder Lokführer fährt recht häufig permissiv in Abstellanlagen und Depots.
Bei der Untersuchung der Ablenkung des Fahrers steht die Frage im Raum, warum der Lokführer den Headcode 5D29 nicht eingeben konnte. Dies hing tatsächlich in keinster Weise mit der Türstörung zusammen.
Der Bildschirm vom TMS ist ein Touchscreen rechts im Führerpult. Unten rechts ist immer ein HOME-Button, welcher das TMS in den Grundzustand versetzt und den Bildschirm anzeigt, der zum Fahren benötigt wird.
Gibt man eine neue Zugnummer im TMS ein, so gibt es unterhalb der Anzeige einen Button CHECK STOPS, mit welcher die Halte der geplanten Zugfahrt angezeigt werden können. Die Bordcomputer der Class 800 übernehmen die eingegebene neue Zugnummer nur, wenn dieser Knopf gedrückt wird. Ein Bild davon findet man im Bericht auf PDF-Seite 22.
In den Schulungen von LNER bekommen Lokführer beigebracht, dass sie entweder CHECK STOPS oder HOME drücken müssen, damit die eingegebene Zugnummer übernommen wird. Es gibt auch eine App für Tablets, mit der das TMS zu Schulungszwecken nachgestellt werden kann, und in dieser App führt der Druck beider Knöpfe dazu, dass die Zugnummer übernommen wird. Tatsächlich führt auf den Zügen aber nur der Druck auf CHECK STOPS zu einer Übernahme der Zugnummer, während ein Druck auf HOME die Eingabe verwirft.
Die Schulung von LNER ist auf einem offiziellen Dokument von Hitachi aufgebaut, welches sich Operation Manual nennt. Dieses trifft zu diesem speziellen Aspekt keine eindeutige Aussage, es kann so oder so interpretiert werden. Des weiteren wurde die App als Grundlage für die Schulungen verwendet.
Die App selbst ist von einer britischen Softwarefirma im Auftrag von Hitachi entwickelt worden. Grundlage für die Funktionsweise der App war genau das besagte Operation Manual. Somit sind alle Lokführer von LNER im Umgang mit den Class 800 falsch geschult worden, unterstützt durch eine falsche App.
Des weiteren war dies zwar ein langjähriger Lokführer, allerdings erst die dritte Alleinfahrt auf einem Class 800. Das RAIB hat in dem Bericht geschätzt, dass bei vergleichbarer Hebelstellung ein HST anstelle eines Class 800 aus dem Stand in der gleichen Zeit nur bis 11 km/h beschleunigt hätte, genug um auf den mit 8 km/h vorausfahrenden Zug zu reagieren. Der Lokführer sagte aus, dass ihn die große Beschleunigung des Class 800 überrascht hat. Die Umschulung auf Class 800 war kurz zuvor abgeschlossen worden, als einer der letzten Anwärter, denn in den vorangegangenen zwei Jahren war dieser Lokführer wegen privater Ursachen nur etwa zwei Monate lang im Dienst. Der Unfallbericht sieht daher diesen Lokführer trotz seiner langen Karriere als Lokführer zum Unfallzeitpunkt als relativ unerfahren an. LNER hatte entgegen interner Richtlinien den erhöhten Schulungsbedarf des Lokführers nicht erkannt.
Dann wäre da noch die Entgleisung des Class 800. Dass ein Zug an mehreren Stellen, aber entfernt von der Kollisionsstelle, entgleist, ist laut Unfallbericht nie zuvor passiert. RAIB hat daher die Kollision mit einem 3D-Modell und mit drei 1D-Modellen unabhängig voneinander untersucht.
Die Kupplungen zwischen den einzelnen Wagen können beim Auftreten größerer Stoßkräfte nachgeben, dann schieben sie sich zusammen. Dabei wandert die Kupplungsstange in einen Zylinder, welcher unter normalen Umständen zu klein für die Kupplungsstange ist, so dass der Zylinder verformt wird. Dabei wird die Stoßenergie absorbiert. Hier war die Differenzgeschwindigkeit zwischen den Zügen zu klein, um diesen Mechanismus auszulösen, die Kupplungen blieben steif.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass durch die exakte Position der Kupplungen unter der Haube vom Class 800 und vom HST beim Aufprall die Nase des Class 800 eine Kleinigkeit nach links und nach unten gezogen wurde, neben der Stoßkraft in Längsrichtung. Der erste Wagen entgleiste nicht, aber aufgrund der Symmetrie bewegte sich somit das hintere Ende des ersten Wagens aus der Mittellinie etwas nach rechts und nach oben. Dies reichte aus, um den zweiten Wagen im Moment des Aufpralls stark nach unten und nach links zu drücken. Da das hintere Ende des zweiten Wagens dabei wiederum nach rechts oben ausgelenkt wurde, wurde das hintere Drehgestell dadurch aus dem Gleis nach rechts gehoben. Das Gleiche passierte mit dem dritten Wagen. Beim vierten Wagen wurde immerhin eine Achse des hinteren Drehgestells nach rechts aus dem Gleis weggedrückt. Auf PDF-Seite 32 ist das 3D-Modell im Moment des Aufpralls und die sich aus dem Gleis hebenden Wagen zu sehen.
Die Entgleisung wurde tatsächlich durch die eingeleitete Schnellbremsung noch verstärkt. Da die Bremskraft von der auf den Rädern wirkenden Last abhängt und bei der Kollision durch die seitliche Verschiebung für kurze Zeit mehr Last auf die linken Räder ruhte, wurde der Effekt der nach rechts auswandernden hinteren Drehgestelle verschärft. Die Simulationen zeigen, dass ohne Bremsung des Class 800 nur der zweite Wagen entgleist wäre.
Weitere Untersuchungen zeigten, dass bei einer Kollisions-Relativgeschwindigkeit von über 22 km/h die Kupplungen sicher nachgeben. Dadurch werden auch konstruktionsbedingt die maximalen Auslenkwinkel seitlich und in der Höhe begrenzt. Dies führt zu einer deutlich reduzierten Entgleisungswahrscheinlichkeit, da sich die Wagen nicht mehr so weit anheben können. Hier lag die Differenzgeschwindigkeit bei 16 km/h. Kleinere Aufprallgeschwindigkeiten hätten übrigens nicht die Energie entfalten können, um Einzelwagen zum Entgleisen zu bringen. Somit schlussfolgert der Unfallbericht, dass die größte Entgleisungswahrscheinlichkeit bei Aufprallgeschwindigkeiten wie der hier passierten herrscht – sowohl geringere als auch höhere Geschwindigkeiten hätten zu weniger Entgleisung geführt.
Die ausgesprochenen Empfehlungen konzentrieren sich hauptsächlich auf das TMS, auf die Lokführerschulungen und auf die Sicherheitszulassung der Class 800. Ein nettes Detail ist die Liste aller britischen Entgleisungen der letzten 30 Jahre sowie die Liste aller fünf vorangegangenen Zusammenstöße mit ähnlichen Zügen im Anhang des Berichts.
Wir trinken immer wenn: - gegen Vorschriften verstoßen wird - oder eine fehlerhafte Annahme bei Planung oder Konstruktion getroffen wurde.
Man sollte Alwin Meschede vielleicht mal für seine feuchtfröhlichen Lesungen von Unfallberichten aufs Ausland ansetzen
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