Die französische Staatsbahn (Chemins de fer de l’État, kurz ETAT) die 1878 aus dem Zusammenschluss von zehn insolventen Eisenbahngesellschaften entstand, lies ihre Dampflokomotiven in der Regel natürlich in Frankreich bauen. Wenn aber die einheimischen Lokomotivhersteller nicht in der Lage waren die benötigten Maschinen zu liefern, beauftragte man durchaus Lokomotivbauer in den USA, Belgien, Deutschland oder auch Großbritannien. Dort wurden dann die Maschinen von Kitson & Co., Sharp, Stewart & Co., Neilson & Co. und North British Loco. Co. (NBL) nach Plänen der französischen Chief mechanical engineers (CME) gebaut.
Es gab aber 1911 eine Ausnahme, wo man direkt auf eine britische Baureihe zurückgegriffen hat. Die ETAT bestellte bei der NBL 50 Lokomotiven der "Highland Railway Castle Class", die 1900 von Peter Drummond (damaliger CME der HR und jüngerer Bruder von Dugald D. dem damaligen CME der LSWR) entworfen wurden.
Bildarchiv der ETH, Zürich, (Public Domain)
In Frankreich war die Baureihenbezeichnung 230 État 321-370.
Bei der Gründung der SNCF 1938 waren noch drei der 50 Loks vorhanden, die bis 1941 als Reserveloks und Ersatzteillager dienten. Es waren fast baugleiche Maschinen mit ganz minimalen Änderungen. Zahlreiche Details verrieten sofort den "britischen" Ursprung dieser Lokomotiven. Französische Dampflokomotiven waren gekennzeichnet durch generell mehrere Domhauben, viele außen aufgesetzte Leitungen und meist ganz andere Bauarten von Kaminen. Auch die Größe und Breite der Loks gegenüber der Wagen, die durch das viel kleinere Lichtraumprofil natürlich viel kleiner waren, fielen sofort auf.
Für einen Briten der um 1920 in Frankreich unterwegs war, war es sicher ein seltsames Bild, wenn er solchen Zügen wie auf den Bildern im Archiv der Highland Railway begegnete:
Sharp, Stewart & Co. baute ab 1876 2-4-0-Lokomotiven für die damalige South Eastern Railway. Insgesamt 20 Stück. 1878 entstand eine zusätzliche Lok dieser Bauart, die Sharp, Stewart auf der Weltausstellung in Paris ausstellen wollte. Es war für die damalige Zeit eine moderne zugkräftige Lokomotive die mehr oder weniger der von Ramsbottom entwickelten LNWR Newton Class entsprach.
Auf der Weltausstellung kaufte die französische Paris-Orleans-Bahn diese Lokomotive. Dort war sie dann bis um 1920 im Dienst. Wahrscheinlich war sie günstig zu haben, so sparte sich Sharp, Stewart & Co. schließlich den Rücktransport nach GB.
Vermutlich kamen auf solchen Weg im Laufe der Jahre immer mal wieder britische Dampfloks aufs Festland und blieben dann, ohne dass dies von vorneherein beabsichtigt war. Ich recherchiere auf jeden Fall weiter in dieser Richtung.