ich bin im Wikipediaartikel Interurban auf den Passus gestoßen, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts per Interurban möglich gewesen sein soll, von den Liverpooler Docks bis nach Leeds mit einer einzigen Lücke von 11km komplett auf Schienen zu reisen, ohne eine einzige Eisenbahn zu nutzen. Das klingt spannend und ich habe mich ein bisschen durchs Internet geklickt.
Ab und zu ist zu lesen, v.a. wenn es um Pre-Grouping-Dampfloks wie die SR Terrier A1X oder die GER Holden Decapod geht, dass der Innovationsdruck durch die Konkurrenz durch die Tramways (Straßenbahnen) kam. In diesem Forum ging es bislang nur sehr wenig um Trams, daher möchte ich hier ein wenig erzählen, was ich so im Netz gefunden habe.
Straßenbahnen sind eine Entwicklung der 1870er Jahre. Zu dieser Zeit waren zu Lande die einzige Fortbewegungsmittel Pferde, und das Wegenetz war nicht befestigt; Straßen gab es noch nicht. Für den Güterverkehr gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert ein Kanalnetz, der Sankey Canal von 1757 wird als erster Kanal der industriellen Revolution angesehen. Im Jahre 1870 wurde mit dem Tramways Act 1870 die gesetzliche Grundlage für Straßenbahnen geschaffen, nachdem ein Entrepreneur namens George Francis Train in den 1860ern in Birkenhead (Liverpool) testweise eine kurze Straßenbahn angelegt hat und damit erfolgreich war, für eine ähnliche Bahn in London jedoch verhaftet und bestraft wurde.
Das Tramway-Act-Gesetz sah vor, dass private Betreiber die Bahnen bauten und betrieben. Die Stadtverwaltungen durften ebenfalls Gleise bauen, selbst aber keine Straßenbahnen betreiben. Die Konzessionen galten laut Tramway Act für mindestens 21 Jahre, so dass die Privatunternehmen finanziell relativ sicher planen konnten. Der Bau von Straßenbahnen war zu dieser Zeit attraktiv, da die Beschleunigung auf dem Landwege gegegnüber Pferden enorm war.
Da wir uns in diesem Forum selten mit den Jahren vor 1910 beschäftigen, spule ich hier mal vor. Die Zeit zwischen 1910 und 1930 wird als die Hochzeit der britischen Straßenbahnen betrachtet. Die Großstädte hatten bis dahin eigene Betreibergesellschaften, welche nach der 21-Jahres-Frist den Betrieb übernahmen, und unter kommunaler Verwaltung standen. Größter einzelner Betrieb waren die Manchester Corporation Tramways, lediglich die erst 1933 unter dem Dach des London Transport Passenger Board zur gemeinsamen Verwaltung unterstellten 16 Londoner Straßenbahnbetriebe waren zusammengerechnet größer (wenn auch ohne Gleisverbindung). Eine Besonderheit sind die Group Holding Companies, das waren Gesellschaften, die sich auf den AUfkauf und Betrieb von Straßenbahnnetzen spezialisiert hatten. Da wäre zum Beispiel die Imperial Tramways Company, welche alle 16 Londoner Straßenbahnen plus die in Bristol, Middlesborough, Gloucester, Reading, Darlingtonund Stockton-on-Tees betrieb, oder auch die Provincial Tramways Company mit den Betrieben in Plymouth, Cardiff, Portsmouth, Gosport, Grimsby und Horndean. Es gab auch andere Unternehmen, die sich in den Straßenbahnbetrieb als weiteres Standbein einkauften, wie z.B. British Thompson-Houston, welche die Betriebe in Cork (Irland gehörte damals noch zum UK), Margate-Ramsgate und Chatham betrieben. Dem ein oder anderen ist British Thompson-Houston besser bekannt als der Lokomotivbauer der British Rail Class 15.
Der englische Begriff Interurban stammt aus den USA und bezeichnet eine Bahn, welche zwischen min. 2 Ballungsräumen verkehrt und im städtischen Bereich straßenbahnähnlich trassiert ist oder vorhandene Straßenbahnen mitnutzt. Er ist überwiegend, aber nicht vollständig deckungsgleich mit dem deutschen Begriff Überlandstraßenbahn. In den USA bildeten sich nach dem Bau verschiedener Straßenbahnbetriebe neue Interurban-Gesellschaften, welche Überlandstraßenbahnstrecken bauten und die Städte mit Straßenbahnen so untereinander verbanden. Meist passte die Spurweite, ansonsten gab es Dreischienengleis. Selbst unterschiedliche Fahrdrahtspannungen wurden überwunden, so fuhren die meist etwas größeren Wagen gerne außerorts mit 1200V, während innerorts bei 600V die Fahrmotorleistung nur halb so groß war. Weitere Länder, die für ihre Interurbans bekannt waren, sind Belgien und die Niederlande. In Belgien sind die Premetro und die Kusttram zwei Reste von einem einst das ganze Land überspannenden Dampfstraßenbahnnetz, während in den Niederlanden mit der Blauwe Tram sowie den Straßenbahnen in Den Haag und Rotterdam auch größere Stadtnetze teilweise mit Metroanteil aus den Interurbans hervorgegangen sind. Sehr spannend sind die japanischen Interurbans, die nach US-amerikanischem Vorbild angelegt wurden, anders als in Amerika mit der einsetzenden Massenmotorisierung aber nicht stillgelegt, sondern so weit wie möglich auf Eisenbahnstandard ausgebaut wurden. Da beschäftige ich mich zurzeit viel mit.
Kaum ein britischer Betriebe nutzte dieselbe Spurweite, einige wenige fuhren auf 1067mm. Damit waren die Bedingungen grundsätzlich nicht gegeben, um die Netze miteinander verbinden zu können, es blieb bei Berührungen der Netze. Ganz besonders häufig kam das in West Yorkshire vor, es bestanden Gleisverbindungen zwischen den örtlichen Straßenbahnnetzen von Wakefield, Leeds, Bradford, Dewsbury, Halifax und Huddersfield.
Rote Linien sind die Strecken der Leeds Corporation Tramways (1435mm). Die Wakefield Tramway (ebenfalls 1435mm) ist als Interurban-Strecke im Süden angeschlossen und führt bis in die Nachbarstadt Wakefield. Geht man auf die Seite, findet man auch den Innenstadt-Detailplan, auf dem zu sehen ist, dass die Straßenbahn Wakefield in Leeds bis zum Bahnhof fuhr. Links sieht man in braun die anschließende Linie 10 der Bradford Corporation Tramway, dort ist kein durchgehender Betrieb, aber man kann umsteigen.
Schaut man sich die Nachbarkarte an, so sieht man, dass diese Umsteigemöglichkeit noch zu ein paar anderen Städten gegeben war, wie ich weiter oben schon einmal erwähnte.
Das Angebot an Strecken ist vielfältig. Oft werden auch Relationen bedient, die mit der Eisenbahn so nicht angeboten werden, Dewsbury nach Bradford etwa, man müsste heutzutage über Leeds oder über Halifax fahren. Die Spurweiten waren in Bradford 1219mm, in Halifax 1067mm und in Huddersfield 1416mm. Weiteres schönes Detail: Der Betrieb in Dewsbury kam komplett ohne Liniennummern aus.
Im Südwesten von Huddersfield liegt die Endstelle Marsdon am Rande der Pennines, die man auf der Karte nur erahnen kann. Das bedeutet, dass die Endstelle Waterhead westlich der Pennines wirklich nur 11km entfernt lag, wie auf der folgenden Karte zu sehen ist.
Während die oberen beiden Karten den Zustand 1931 darstellen, ist diese Karte von 1944. Da fehlt schon viel vom Tramnetz. In Manchester war der vormals eigenständige Betrieb von Salford zuerst da, auch wenn er nur einen kleinen Teil des Straßenbahnnetzes darstellt. Die Strecken nach Oldham und Stockport sind wiederum klassische Interurbans. Manchester hat sich in den frühen 1900er Jahren dadurch hervorgetan, die Strecken der damals noch nicht zusammengeführten Straßenbahnbetriebe von Manchester auf eigene Rechnung zu sanieren und den Betreibern zur Benutzung zurückzuverleasen. So war ein guter Streckenausbau sichergestellt.
Der Wunsch, sich die Gleisanlagen zu sparen, ist schon alt. Bradford hat 1897 und 1902 mit Krafomnibussen experimentiert, aber damals waren weder Fahrzeuge noch Straßen geeignet. Um 1920 herum waren Trolleybusse dann technisch ausgereift, und ab etwa 1930 auch Dieselbusse. Bradford betrieb ein größeres Obus-Netz, Leeds auch, aber Halifax nicht. Ipswich ist ein Beipiel für eine kleinere Stadt, auf welcher alle Antriebsarten im Einsatz waren: 1880 bis 1902 Pferdebahn, 1902 bis 1929 Straßenbahn, 1923-1963 Trolleybus, seitdem Dieselbusse. Man kann sagen, dass die Ära der britischen Straßenbahn ab etwa 1930 zu Ende ging.
Zum Schuss ein Video aus Leeds. Das Video ist aus den 1950ern, also 20 Jahre "nach Ende der Straßenbahn-Ära". Zu dieser Zeit waren die Straßenbahnen in UK nicht länger Rückgrat des Landtransports, private Autos hatten übernommen. Die Straßenbahnen in dem Video wirken mehr wie Fremdkörper auf den viel volleren Straßen.
Im englischsprachigen RMweb-Forum gibt es bei Interesse eine Spezialkategorie, in der es nur um Tramways in Vorbild und Modell geht.
vielen Dank für die ausführlichen Infos zu den Tramways.
Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass der Begriff "Tram" ursprünglich aus dem Deutschen kommt. Es war gleichbedeutend mit Balken. Ein im Bergbau eingesetztes und auf geschlitzten Balken basierendes spurgeführtes Bahnsystem kam im 15. Jahrhundert von Deutschland nach England, wo sich der Begriff Tramway allgemein für spurgeführte Bahnen entwickelte.
Später, nach dem Aufkommen der Dampfloks unterschieden die Engländer fortan, indem sie den Namen Railway nur den Dampfbahnen vorbehielten, Tramway dagegen wurde für lokale Bahnen mit Pferdebetrieb genutzt.
Später wurde aber vieles auch vermischt, vor allem nach dem Light Railway Act von 1896. Es gab auch Bahnen die sich "Tramway" nannten, aber nicht aufgrund des Tramways Act 1870 genehmigt wurden, sondern Light Railways oder normale Railways waren. Umgekehrt das gleiche, z.B. die Cheltenham and District Light Railway wurde 1901 als Light Railway genehmigt, war aber eine ganz normale Straßenbahn.
So etwas gab es auch in Deutschland. Man konnte von Düsseldorf bis Unna nur mit Straßenbahnen fahren. Die legendäre K von Düsseldorf nach Duisburg hatte sogar ein Speiseanteil.. VG Joachim
Da hast Du aber leicht untertrieben. Die längste Reise beginnt damals wie heute in Tönisvorst und führt erst einmal über Krefeld nach Düsseldorf - das war auch besagte K mit dem Speisewagen, wobei die D nach Duisburg auch einen hatte. Wenn Du obendrein noch als Eisenbahn konzessionierte Überlandstraßenbahnen zulassen willst, dann ging es damals sogar noch weiter mit der Kleinbahn Unna-Kamen-Werne bis Werne an der Lippe.
Aber ob man das machen will ist eine andere Frage. Ich habe mal vor einigen Jahren den liebevoll "Tortour de Ruhr" genannten Ochsenritt von Tönisvorst über Krefeld, Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Essen, Gelsenkirchen und Bochum nach Witten gemacht - im letzten Jahr der Speisewagen auf der Expresslinie U70. Im Prinzip erreicht man aber irgendwo an der Betriebsgrenze zwischen EVAG und Bogestra den Punkt, wo man eigentlich nur noch von der Erkenntnis getrieben wird, dass es nun schade um den Tag wäre, wenn man aufgibt. Eigentlich würde man aber gerne in Gelsenkirchen oder Bochum Hauptbahnhof in einen Zug einsteigen und nach Hause zurückfahren. Wobei solche Herausforderungen auch ihren Reiz haben. Ich suche ja immer noch einen "Dummen", der mal das gesamte Stadtbahnnetz von KVB, SWB und SSB an einem Betriebstag mit mir abfährt.
Viele Grüße Mirko
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Hallo Mirko, kommt Mann denn noch von Witten nach Dortmund? Dortmund-Unna ist schon lange abgebaut und Unna-Werne ist auch schon seit Jahren keine Zechenbahn mehr, dafür aber ein schöner Radweg. VG Joachim
Nein, deshalb ist Witten-Heven heute zwangsläufig der Endpunkt. Bogestra und DSW haben leider keine Berührungspunkte mehr. Sonst wäre, sogar auf der alten Trasse, der Endpunkt der Tour in Wickede.
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Entweder Du hast Adleraugen, das Video ist leicht verzerrt, Du hast Dich von den schmalen Autos täuschen lassen (ein Morris Minor ist mit ca. anderthalb Metern knapp 30 cm schmaler als selbst ein heutiger Kleinwagen wie der Ford Fiesta) oder eine Kombination aus allem. Aber in der Tat hast Du Recht. Die historische Sheffield Tramway hatte eine "Breitspur", laut https://www.tramway.co.uk/trams/sheffield-no-330/ von 4 Fuß 8,5 Zoll, was 1478 mm entspräche und vermutlich eine aufgeweitete Normalspur ist, die später zum Normalzustand erklärt wurde wie hierzulande in Leipzig und Dresden.
Viele Grüße Mirko
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