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Class150 Offline




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20.11.2020 22:09
Der Gegenkolbenmotor, nicht nur Napier Deltic Antworten

Hallo,

Nachdem ich gestern auf der Recherche nach ganz anderen Informationen in diesem Posting Rätselstunde (76) auf eine nur halbrichtige Aussage gestoßen bin, habe ich mir gedacht, man kann sich eigentlich mal komplett mit der Geschichte der vor allem im britischen Lokomotivbau Kultstatus genießenden Gegenkolbenmotoren befassen, nicht ohne dabei auch mal über den sowohl anwendungsseitigen als auch geographischen Tellerrand hinaus zu schauen.

1. Was ist ein Gegenkolbenmotor?
Fangen wir mal beim "normalen" Hubkolbenmotor an, der heutzutage fast nur noch verwendet wird. Bei dem der Zylinder durch einen Kolben und einen Zylinderkopf begrenzt wird. Der Kolben drückt dabei das Gemisch gegen den Zylinderkopf. Im Zylinderkopf sitzt bei den technisch anspruchsvolleren Viertaktmotoren auch die ganze erforderliche Technik wie fremdgesteuerte Ventile, Zündkerzen beim Benziner, etc. Zweitakter haben üblicherweise keine Ventile (technisch kann man es durchaus so bauen) sondern Schlitze in der Zylinderwand knapp über dem unteren Totpunkt des Kolbens. Bei einfachen Hubkolbenmotoren ist die sogenannte "Spülung", also der erste Takt, bei dem das Abgas gegen Frischluft im Zweitaktmotor getauscht wird, besonders schwierig. Man muss im Ansaugtrakt Überdruck erzeugen. Meistens leitet man bei kleinen Motoren (Rasenmäher, Mofa, Motorrad, Auto) das frische Gemisch durch das Kurbelwellengehäuse, wo es vom im Zylinder nach unten laufenden Kolben komprimiert wird und dadurch auf einer Seite in den Zylinder gedrückt wird und selbst das Abgas gegenüber raus drückt, die sogenannte Querströmung. Der dann hoch fahrende Kolben verschließt die Ein- und Auslasschlitze für den Verbrennungstakt. Bei Autos gab es auch noch optimierte Bauweisen bei Herstellern wie DKW, die lange am Zweitakter fest hielten und ihn gegen die immer größere Konkurrenz der Viertakter optimieren mussten. Große Zweitaktmotoren im Lokomotiv- und Schiffsbau erzeugen diesen Überdruck auf der Saugseite üblicherweise mit einem Turbolader.
Für die Vorstellung ein Zwischenschritt, auch wenn es der jüngste von den dreien ist, ist der Doppelkolbenmotor. Hier arbeiten zwar auch zwei Kolben gegeneinander, aber sie stehen beide Parallel, der Zylinder sieht also aus wie ein umgedrehtes U. Die beiden Kolben laufen je nach Hersteller gleichzeitig oder ganz leicht versetzt hoch und runter, komprimieren das Gemisch so in der Biegung des U. So kann man den Einlass- und Auslassschlitz jeweils dem anderen Kolben zuordnen, so dass das frische Gemisch durch den ganzen Zylinder muss und der Gasaustausch verbessert wird (Gleichstromspülung). Manche Hersteller (Puch, Trojan) benutzten dann einen leichten Versatz der beiden Kolben, andere nicht (Triumph, Garelli). Wie man an den Anwendern schon erkennt, wurden diese Motoren gerne im Motorrad eingesetzt. Sie ließen sich durch die kompakte Bauweise besonders gut in Motorräder einbauen, waren von ihren Proportionen fast ein Würfel. Doppelkolbenmotoren boten durch die bessere Spülung mehr Leistung als Zweitaktmotoren mit einem Kolben. Ihr Nachteil war ein Kühlungsproblem auf der Auslassseite und in der Trennwand zwischen den beiden Kolbenlaufbahnen. Motorradmotoren ließen sich durch die damals sehr offene Bauweise des Fahrzeugs aber gut kühlen. Ihre Blütezeit hatten Doppelkolbenmotoren in den 1920er Jahren.
Der "echte" Gegenkolbenmotor, wie ihn am Ende Napier & Sons auch verwendete, ist das gleiche Prinzip in gestreckter Form. Die Kolben stehen nicht in einem U nebeneinander sondern in einem langen Zylinder direkt gegenüber, das Gemisch wird also in der Mitte einer langen, gerade Röhre komprimiert. Ansonsten ist die Funktionsweise von Gegen- und Doppelkolbenmotor gleich. Das Gemisch kommt bei einem Kolben rein, verdrängt so das Abgas beim anderen Kolben aus dem Brennraum per Gleichstromspülung. Die Kolben verschließen die Öffnungen, komprimieren das Gemisch zwischen sich, wo es je nach Kraftstoff entweder selbst zündet oder gezündet wird. So ein Motor ist sehr flach und breit, weshalb er aus dem Flugzeugbau kommt und was die Motorradhersteller störte. Das Kühlungsproblem auf der Auslassseite ist prinzipbedingt, lässt sich bei dieser Bauform aber besser beherrschen als beim Doppelkolbenmotor. Theoretisch kann man auch Gegen- und Doppelkolbenmotoren als Viertakter bauen, es macht aber keinen wirklichen Sinn und wurde nur in wenigen Ausnahmen praktiziert, weil z.B. der französische Automobil- und Motorenhersteller Gobron-Brillié 1906 bei einem Flugzeugmotor die Bauform des Gegenkolbenmotors ausnutzen wollte, aber aufs Viertaktprinzip setzte.

2. Warum wurde der Gegenkolbenmotor entwickelt und von wem?
Auch wenn man die Entwicklung gerne Hugo Junkers zuschreibt, so war er nicht der Kopf hinter dem Motor sondern eher die Hände. Erfinder war Wilhelm von Oechelhäuser Junior, der einen Motor für die Stromerzeugung im Unternehmen seines Vaters, der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft in Dessau, haben wollte. Das Unternehmen heißt heute Contigas Deutsche Energie-AG, gehört zu e.on und sitzt in München. Das Unternehmen kam aus der Gaserzeugung und -verteilung und wollte aus diesem Energieträger Elektrizität erzeugen, was in den 1890ern natürlich nur mit Kolbenmotoren ging. Auf die praxistaugliche Gasturbine musste die Welt noch fast 70 Jahre warten. Von Oechelhäuser hatte die Idee zum Gegenkolbenmotor für eine hohe Leistungsdichte, sein damaliger Assistent Hugo Junkers konstruierte den Motor 1892 nach von Oechelhäusers Idee.
1895 gründete Hugo Junkers die Junkers & Co. Fabrik für Warmwasser- und Heizapparate, heute ein Tochterunternehmen des Bosch-Konzerns und immer noch Hersteller von Gasbrennern unter dem Namen Junkers. Ab 1908 begann er sich im Zuge seines Lehrstuhls für Thermodynamik an der Universität Aachen mit dem Ingenieur und Physiker Hans Reissner mit Aerodynamik zu beschäftigen, entwickelte und patentierte 1910 den "dicken Flügel", der noch heute eingesetzt wird und ein zwischen Spanten freitragender Hohlraum ist, in dem er schon damals beabsichtigte, Treibstoff und Motoren unterzubringen.
Junkers wollte so die Probleme anderer Motoren umgehen. Reihen- und V-Motoren hatten große Querschnitte und eine große Länge. Im Flügel störten sie das Strömungsprofil durch ihre Abmessungen und in der Nase für einen Zentralpropeller machten sie das Flugzeug sehr Kopflastig. Die Sternmotoren waren zwar ähnlich schwer, aber durch die kompakte Bauweise wenigstens nicht so lang. Die Zylinder bildeten einen Kranz direkt hinter dem Propeller, konnten aber direkt danach wieder aerodynamisch günstig in den Rumpf oder Flügel integriert werden. Ein Gegenkolbenmotor würde komplett im "dicken" Flügel liegen können und seine Nachteile, besonders dass er für seine abgegebene Leistung relativ schwer war, durch optimale Aerodynamik wettmachen. Ironischerweise würde Junkers später mit stehenden Motoren erfolgreich sein und nicht mit im Flügel liegenden. Da sie sehr schmal waren, hatten aber auch in der Ausrichtung aerodynamische Vorteile im Flugzeugbau.

3. Der Gegenkolbenmotor lernt fliegen, schwimmen, wird dreidimensional und steht sich im Seegefecht selbst gegenüber
Erste Flugzeuge von Junkers, ebenso wie die ersten Prototypen von Gegenkolben-Flugmotoren, beginnend 1916 mit dem Junkers FO1, baute er noch über seine Heizungsfabrik. 1919 gründete Junkers die Junkers Flugzeugwerk AG in seiner Heimatstadt Dessau. 1923 folgte die Junkers Motorenbau GmbH. Erster erfolgreicher Motor war der Jumo 204, den Napier & Son lizensierte und als Napier Culverin herstellte. Junkers entwickelte den Motor mehrfach weiter bis zum Jumo 207, wobei nur 204 und der stärkere 205 nennenswerte Stückzahlen erreichten. 206 und 207 blieben Protoypen und Kleinserien mit dem Ziel, in größerer Höhe zu funktionieren, wurden aber von der Konkurrenz aus eigenem Hause, der Junkers Jumo 004 Strahlturbine ausgestochen.
Hugo Junkers hatte schon vorm Krieg die Idee, diese Motoren auch als Marinemotor in Delta-Form anzuordnen, um auf kleinem Raum mehr Zylinder unterzubringen, scheiterte aber daran, die dabei zwangsläufig entstehende, gegenläufige Kurbelwelle mit den beiden anderen zu synchronisieren. Die Idee besprach er aber auch mit Lizenznehmer Napier & Son und überließ ihnen Skizzen in der Hoffnung, dass die Briten eine Idee haben könnten, wie die Probleme zu überwinden wären.
Der Krieg beendete diese Kooperation noch in ihrer Entstehungsphase und beide Unternehmen beließen es erst einmal bei einfachen Reihenmotoren. Die baugleichen Motoren Junkers Jumo 204 und Napier Culverin kamen auch in sehr kleinen Patrouillenbooten zum Einsatz, die sich gelegentlich im Ärmelkanal zwischen dem besetzten Frankreich und Großbritannien den einen oder anderen Schusswechsel lieferten, aber kaum mehr als größere Motorboote mit Maschinengewehr waren. Als Dieselmotoren boten sie weniger Gefahr von Explosionen durch Schusstreffer als bei den konkurrierenden Benzinmotoren. Konventionelle Diesel drehten zu langsam für so schnelle Boote.
Weil größere und schlagkräftigere Boote mehr Leistung brauchten, machte sich Napier im Auftrag der Marine daran, einen dreidimensionalen Motor nach Junkers Idee zu entwickeln, der viel mehr Zylinder auf nur wenig mehr Bauraum hatten. In Deutschland kam auch in der zweiten Kriegshälfte der Wunsch nach mehr Zylindern für schwere Langstreckenbomber auf. Während Junkers vier Jumo 204 im Quadrat aneinander setzte (Jumo 223 und 224 "Diamond Engine") und so gleichlaufende Kurbelwellen bekam, fand English Electric, die im Krieg die neuen Hausherren bei Napier & Son geworden waren, die Lösung für die gegenläufige Kurbelwelle bei drei Zylindern in einer Ebene und baute drei Culverin im Dreieck zusammen, der Deltic war geboren. Alle diese dreidimensionalen Motoren wurden aber bis Kriegsende nicht mehr serienreif.

4. Junkers Erben in der Nachkriegszeit
Während der Gegenkolbenmotor in Westdeutschland nach dem Krieg kaum noch eine Rolle spielte und wenn dann nicht auf technischer Basis von Junkers sondern als Eigenkonstruktion beim Auto- und Motorradhersteller DKW, sah das im Ausland anders aus. Hier im Forum für die Nachkriegszeit am besten bekannt ist der Napier Deltic, der auch nach dem Krieg noch in Schnellbooten und anderen kleinen Kriegsschiffen zum Einsatz kam. Zum Beispiel in den Minenräumern der Hunt-Klasse, wo erst vor 2 Jahren der letzte Napier Deltic im Rahmen einer Modernisierung durch einen konventionellen Caterpillar-Motor ersetzt wurde. Bei der Eisenbahn waren es natürlich mit 9 und 18 Zylindern in den Class 23 und Class 55 die bekannten Deltic Dieselloks. Ein exotischer Einsatz eines Napier Deltic war in Amerika, wo er als Antrieb der Pumpe auf dem Mack "Super Pumper" diente, dem leistungsfähigsten Feuerwehrlöschfahrzeug der Welt.
Apropos Amerika, noch ein verbreiteter Motor verdankt seinen Erfolg Hugo Junkers. Nach Amerika geflohene, jüdische Mitarbeiter von Junkers waren maßgeblich an der Optimierung des bereits in der Entwicklung befindlichen Fairbanks Morse 38 8-1/8 Gegenkolbenmotors beteiligt. Dieser Motor machte im Gegensatz zu seinen britischen Gegenstücken zwar eher weniger auf der Schiene Karriere, aber in der Marine. Der in den 30er Jahren ohnehin schon durch Junkers inspirierte und um 1940 ausgereifte Motor wurde in den 1940er und 50er Jahren vor allem in U-Booten und über Wasser bis heute militärisch in Zerstörern und zivil in Eisbrechern eingesetzt. Die Bedeutung als Antriebsmotor von Schiffen ist zwar gesunken, aber als Generatormotor zur Stromerzeugung wurde er bis in die 1990er Jahre zum Beispiel auf den Harpers Ferry Class Landungsbooten noch neu verbaut. Dass der Motor nicht größere Verbreitung bei der Bahn fand, lag nicht an seiner Konstruktion sondern einzig und allein am stümperhaften Vertrieb der Fairbanks Morse Lokomotiven, die sich so nicht gegenüber den deutlich erfolgreicher vermarkteten Konkurrenten von General Motors und Alco durchsetzen konnten.
Die Motorenfabrik Kharkiv wiederum kaufte über Umwege Loks mit FM 38 8-1/8 Motoren, zerlegte und analysierte die Aggregate und entwickelte so ihre eigenen, aber unverkennbar auf dem FM 38 basierten Motoren. Die bekanntesten Produkte dieses Reverse Engineering sind die Typen 2D100 und 10D100, die in den bekannten sowjetischen Dieselloks der TE-Baureihen zum Einsatz kamen und noch immer kommen.

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